Kurzinformation zur Schrift
Das Design der Kristall Grotesk basiert auf einem Hausschnitt der Stempelschneiderei Wagner&Schmidt, Leipzig, aus den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts. Als Basis für die digitale Umsetzung der Stiftung Werkstattmuseum für Druckkunst Leipzig dienten die Normschriftgrade (28p) der Handsatzschnitte, wie sie von der Schriftgießerei Johannes Wagner, Ingolstadt, angeboten wurden. Die Umsetzung wurde bewusst als Replik angelegt, um eine möglichst werktreue Wiedergabe als Ausgangsbasis für den Entwurf weiterer Designgrößen zu schaffen. Bei der vorliegenden Kristall Grotesk handelt es sich also um ein Headline-Design. Variieren lässt sich die Anmutung des Schriftbildes durch eine Anzahl alternativer Formen der Versalien, die dem Zeitgeschmack entsprechend wahlweise mit spitzen oder mit flachen Ausformungen an den Buchstaben wie z. B. A, M, N, V, W usw. zur Verfügung standen und so einen eher historischen oder auch moderneren Eindruck vermitteln können.
Charakteristisch für das Schriftbild der Kristall sind die Versalien, die sich prinzipiell auf Vorbilder römischer Formensprache beziehen, sich aber mit ihren teilweise etwas unentschieden aus der optischen Mitte verschobenen horizontalen Leitlinien am Zeitgeschmack der Jahrhunderwende orientieren. Eine Gestaltung, die nach Erbar Grotesk und Futura nicht unbedingt als zeitorientiert gelten kann, heute aber bei gezielter Anwendung durchaus reizvolle Akzente setzt. Ergänzt werden die Versalien von Gemeinen mit offenen Rundungen, einer kleinen x-Höhe mit verhältnismäßig kurzen Unter- und sehr langen Oberlängen, die mit der Versalhöhe abschließen. Die Gemeinen weisen verschiedene Besonderheiten auf, die in Textgrößen eher störend sind, im Headline- und Displaybereich jedoch interessante Effekte erzielen. Die Abschlüsse der Grundstriche an den Ober- und Unterlängen sind uneinheitlich gestaltet und von optisch unterschiedlicher Länge. Auch einige Einzelzeichen erscheinen bei genauerer Betrachtung nicht »sortenrein«. Die Figur des gemeinen b und u scheinen gestalterisch losgelöst. Das b orientiert sich an der konstruktiven Geometrik einiger Bauhaus-Entwürfe, das u nimmt eine Formensprache vorweg, die aus heutiger Sicht zeitgemäß, im Zusammenhang mit der Kristall Grotesk aber überraschend modern wirkt. Zumindest das u ist durchgängig in allen Garnituren zu finden. Bemerkenswert ist auch das gemeine ß. Deutlich ist dessen Ableitung der Form vom »langen s« in Verbindung mit einer Form, die dem z der Fraktur entlehnt ist. Eine alternative Form wurde seinerzeit nicht geschnitten, was auf einen damaligen lokalen Vertrieb der Schrift schließen lässt. Sofort ins Auge fallen die Ziffern, die ungewöhnlich klein gehalten wurden, für den gemischten Satz aber die perfekte Größe haben, um bei der kleinen x-Höhe nicht zu dominant zu erscheinen. Auffallend ist die Gestaltung der Ziffern 4, 6 und 9, von der man sich klugerweise in der Kristall Grotesk Buchschrift abgewendet hat.
Neben den Garnituren mager (Light), halbfett (Medium), halbfett kursiv und fett (Bold) verfügt die Kristall Grotesk noch über eine eng halbfette und schmalfette Garnitur. Mit der fetten Garnitur, die im Gegensatz zur mageren extrem größere x-Höhen aufweist, eignen sich die schmalen Garnituren als plakativer Blickfang in der digitalen Replik des 28p Grades eher für Anzeigen und Überschriften in Zeitschriften und Zeitungen, wurden im Bleisatz aber mit den dafür erforderlichen optischen Anpassungen bis 6p angeboten.
Ergänzend war zu Werbe- und Auszeichnungszwecken von der Gießerei Johannes Wagner noch eine Garnitur mit lichten Versalien von 12p bis 48p erhältlich, die auch das digitale Angebot abrundete.
Die digitale Replik verzichtet auf die Ergänzung von Zeichen, die nicht im Bleisatzbestand vorhanden waren. Zeichen, die sich auf der vorhandenen Designgrundlage ergänzen ließen, wurden jedoch hinzugefügt. Die Belegung wurde um Akzentbuchstaben auf den Sprachbereich »Europa Plus« erweitert, so dass alle lateinischen Sprachräume berücksichtigt sind.
Kurzinformation über die Designer
Die Kristall Grotesk der Schriftgießerei Johannes Wagner basiert auf Entwürfen der Stempelschneiderei Wagner&Schmidt, Leipzig. Der Entwerfer oder die Namen der Stempelschneider sind leider unbekannt. Wagner&Schmidt lieferte, ähnlich wie die amerikanische Firma ITC (International Typeface Corporation) in den 70er und 80er Jahren, analoge und digitale Vorlagen, Matern an Schriftgießereien in ganz Europa, die die Schriften jeweils unter eigenem Namen vertrieben.
Zuerst erschienen Schnitte dieses Designs im Laufe der 30er Jahre unter dem Namen Polar unter anderem bei der Schriftgießerei J. John Söhne, die 1956 nach deren Konkurs von der Schriftgießerei Johannes Wagner, Ingolstadt, übernommen wurde. Die Lettern der Polar von J. John Söhne wurden nach der Übernahme jedoch nicht mehr angeboten.
Ende der 30er Jahre erschien die Kristall Grotesk mit erweiterter Schnittanzahl bei der Norddeutschen Schriftgießerei GmbH, Berlin, die von Johannes Wagner, Sohn von Ludwig Wagner (Mitbegründer der Firma Wagner&Schmidt), geleitet wurde.
Aus der Norddeutschen Gießerei, der von ihm ausgegründeten Firma Johannes Wagner, Berlin-West und Teilen der 1954 von Leipzig nach Berlin verlegten Ludwig Wagner AG, an der Johannes Wagner beteiligt war, entstand nach dem Tod von Johannes Wagner 1965 unter Leitung des Prokuristen und späteren Inhabers Arnold Dröse 1971 die Schriftgießerei Johannes Wagner, Ingolstadt, die die Kristall Grotesk über ihren Vertrieb, Lettern Service Ingolstadt, bis zur Einstellung des Gussprogrammes anbot.
Der Matrizenbestand und die Reproduktionsrechte der Schriftgießerei Johannes Wagner, Ingolstadt, sind seit 2002 durch Ankauf im Eigentum der Stiftung Werkstattmuseum für Druckkunst Leipzig. [Günther Flake 02/09]
Weiterführende Links:
Museum für Druckkunst
Kristall Grotest erwerben (Elsner+Flake Fonts)