Bezahlbares Wohnen – Die Meyer‘schen Häuser seit über 100 Jahren in Leipzig gefragt

Aug 22, 2019
Bezahlbares Wohnen – Die Meyer‘schen Häuser seit über 100 Jahren in Leipzig gefragt

Leipzig wächst derzeit schneller als bezahlbarer neuer Wohnraum entsteht. Eine vergleichbare Situation hat es bereits im 19. Jahrhundert gegeben, denn allein Reudnitz wuchs von etwa 400 Einwohnern im Jahr 1832 bis 1885 auf circa 170.000 Menschen an. Bei der Lösung des Problems stechen vor allem zwei Herren heraus: Verleger Herrmann Julius Meyer (1826 – 1909) und Architekt Emil Max Pommer (1847 – 1915), die Väter der Meyer‘schen Häuser.

Herrmann Julius Meyer übergab in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Bibliographische Institut an seine Söhne. Der Verlag veröffentlichte zum Beispiel das Konversationslexikon, Brehms Tierleben und den Duden. Im Jahr 1873 findet er in Leipzig in der heutigen Käthe-Kollwitz-Straße ein Grundstück für ein Haus, in dem er mit seiner Familie leben will. „Mein Urgroßvater Max Pommer, der zu dieser Zeit für den Architekten Gustav Müller arbeitete, übernahm die Bauleitung dieser ‚Villa‘“, erzählt Dieter Pommer.

Beide erkannten, dass die Bevölkerung und der Wohnraum nicht gleichermaßen wachsen. Zudem entstanden teure Wohnungen, die sich einfache Arbeiterfamilien nicht leisten können „Meyer und Pommer suchten eine Lösung und setzten dabei auf Erkenntnisse der Londoner Sozialreformerin Octavia Hill, des Leipziger Wohnungsreformer Gustav de Liagre und des amerikanischen Bankiers George Peabody“, weiß Pommer. Von Hill übernahm Meyer die Idee der Sozialdisziplinierung und der Verbesserung der Wohnbedingungen, von de Liagre die Errichtung von Arbeiterhäusern statt Werkswohnungen und von Peabody die Bildung einer Stiftung. „Meyer war an der Mitwirkung, insbesondere auch sehr an der Erziehung der Mieter interessiert. Somit sollten zu jeder Siedlung ein Geräteschuppen, eine Kinderbewahranstalt sowie eine Bücherei gehören“.

Meyer betraute Pommer mit dem Kauf von Grundstücken in Lindenau. Pommer entwarf zugleich die Pläne und 1889 waren die ersten vier Häuser fertiggestellt. Insgesamt umfasste der Komplex 52 Wohnhäuser mit 501 Wohnungen. Im Jahr 1900 wohnten in den Meyer‘schen Häusern in Lindenau mehr als 2000 Menschen. „Meyer wollte in jedem Stadtteil von Leipzig derartige Häuser bauen. Wichtig dabei waren ihm fließendes Wasser, Tageslicht in jedem Zimmer, gute Belüftung und kleine Balkone zur Vorratshaltung und Aufenthalt an der frischen Luft.“

Im Jahr 1900 gründete Meyer die „Stiftung zur Erbauung billiger Wohnungen in Leipzig“ mit Mitteln aus dem Verlag, was seine Söhne mit Argwohn betrachten. „Auch mein Urgroßvater wollte keine Stiftung. Er war Unternehmer, also bevorzugte er die Gründung eines Wohnungsbauunternehmens nach amerikanischem Vorbild, mit gedeckeltem Gewinn“, weiß der Urenkel. „Dabei sollte nach Pommers Vorschlag die Miete etwa 1/7 des Einkommens betragen. Sie sollte so festgelegt werden, dass ein Gewinn von fünf Prozent bleibt, der nach Abzug aller Kosten weiter für den Wohnungsbau verwendet werden sollte.“ Die 1/7-Regel sei jedoch bereits nach dem Ersten Weltkrieg nicht mehr aktuell gewesen, da sich das Verhältnis der Kosten für Nahrung, Kleidung und Wohnen stets änderten.

Heute geben die Menschen in Deutschland vielerorts 1/3 ihres Einkommens für die Miete aus. „Und auch die Stiftung war im Laufe der Jahre gezwungen, die Mieten entsprechend anzupassen. Dennoch sind Mieten bei uns von fünf bis acht Euro pro Quadratmeter in Leipzig vergleichsweise moderat.“

Bis 1937 entstanden im Leipziger Stadtgebiet Wohnlagen durch die Meyer‘sche Stiftung in Lindenau, Eutritzsch, Reudnitz und Kleinzschocher. Das waren insgesamt 286 Häuser mit 2696 Wohnungen und die Stiftung wendete dafür fast 19 Millionen Mark auf. Meyer und Pommer hinterließen der Stadt Leipzig ein soziales Erbe, auf das nach dem Tod der beiden schwierige Zeiten warteten.

Die politischen Wechsel vom Kaiserreich zur Weimarer Republik und von dieser zum Nationalsozialismus verkraftete die Stiftung genauso wie die Große Depression. Selbst die Schäden durch den Zweiten Weltkrieg blieben überschaubar. In der DDR meinten die verantwortlichen Politiker jedoch, dass die Kommunen mit genügend Geld für soziale Zwecke ausgestattet seien und das Stiftungswesen größtenteils überflüssig sei.

Meyers Stiftung hat sich jedoch gehalten. Nur der Name ist in den 1980er Jahren von „Stiftung zur Erbauung billiger Wohnungen“ in „Stiftung Meyer’sche Häuser“ geändert worden. Die Stiftung verwaltete aber nach Meyers Vorstellung einen Vorstand und einen Beirat mit Vertretern des Oberbürgermeisters. Allerdings bestimmte ein Verwaltungsdirektor den Geschäftsalltag. In der DDR organisierte die Kommune die Vergabe des Wohnraums, so auch bei den Meyer’schen Häusern. Die Mietverträge schloss die Stiftung selbst ab. „Heute sind wir ähnlich einem Wohnungsbauunternehmen mit eigener Verwaltung strukturiert.“

Nach der Wende erfolgen umfangreiche Investitionen in die Modernisierung der Häuser. Das Geld dafür stammt vom Verkauf eines Grundstücks in Probstheida, Krediten, Geldern des Landes Sachsen sowie der Stadt Leipzig. Heute befinden sich von den einst knapp 2700 Wohnungen noch 2360 im Bestand der Stiftung, mittlerweile denkmalgeschützt. „Nach der Wende wurde zunächst in die Gebäudesanierung, die Erhaltung der Grundsubstanz investiert. So nach und nach werden unter anderem Heizungen eingebaut und Bäder installiert“, sagt Pommer. „Dadurch müssen auch Grundrisse geändert werden, das ist viel Arbeit. Wir befinden uns mitten in der zweiten Sanierungsphase. Allerdings ist das Bauen nicht zuletzt durch die Auflagen des Denkmalschutzes auch teurer geworden. Bis alle Häuser auf dem aktuellen Stand sind, wird es noch mindestens 20 Jahre dauern.“

Meyer schloss seine eigenen Söhne aus der Leitung der Geschicke der Stiftung aus, da er wusste, dass sie nicht in seinem Sinne handeln würden. Dafür soll immer ein Pommer im Vorstand oder Aufsichtsrat sitzen. Das ist mit den vierten und fünften Nachfahren des Max Pommer bis heute so – seit 130 Jahren.


Für die Recherche diente folgendes Buch: Adam, Thomas, Stefan W. Krieg, Anett Müller, Dieter Pommer. Max Pommer: Architekt und Betonpionier. Hrsg. Stefan W. Krieg, Dieter Pommer & Sächsisches Wirtschaftsarchiv e.V. (Veronique Töpel). Sax: Beucha, 2015.

Veranstaltungshinweis

Die Leipziger Denkmalstiftung hat einen Vortrag mit einer Führung zum Thema „Wohnen für Arbeiter im Laufe der Zeit am Beispiel der Meyer’schen Häuser“ organisiert. Dieser findet am 24. August 2019 von 10 bis 12 Uhr statt. Treffpunkt ist in der Diezmannstraße 91 in 04209 Leipzig. Die Stiftung bittet um Anmeldungen mit dem Betreff „Tage der Industriekultur“ an: info@leipziger-denkmalstiftung.de oder telefonisch Dienstag bis Donnerstag 10-14 Uhr unter 0341-2480 1891. Teilnehmern wird eine Spende ab 5 Euro empfohlen.

Foto: Leipziger Denkmalstiftung