Alt, aber lange nicht veraltet – das Stahlgießen als Beruf

Jun 19, 2019
Alt, aber lange nicht veraltet – das Stahlgießen als Beruf

Die Spezialgießerei Keßler & Co. GmbH im Südwesten Leipzigs nutzt die Tage der Industriekultur unter anderem zur Nachwuchsgewinnung. Denn wie in anderen Handwerksberufen auch, werden Lehrlinge dringend gesucht. Zumal es doch für die meisten Menschen schwierig ist, die Arbeit in einer Gießerei einzuschätzen. Dabei zählt diese Tätigkeit zu den ältesten Handwerken überhaupt. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie veraltet ist. Im Gegenteil: das Gießen gilt immer noch als wirtschaftlichste Form der Fertigung von Bauteilen aus Metall. Davon haben wir uns bei einer kurzen Werksführung mit dem Inhaber überzeugt.
Beim Betreten der Werkhalle des Familienunternehmens wird schnell deutlich, dass es trotz sommerlicher Außentemperaturen gar nicht so warm ist wie erwartet. „In größeren Gießereien ist das schon anders“, erklärt Inhaber Jörg Siedler. „Da laufen die Leute den ganzen Tag in der Schutzkleidung rum wie Kosmonauten.“

„Für Dreien und Vieren auf dem Zeugnis haben wir schon Verständnis“

Obwohl Lasten mit Kränen oder Gabelstaplern bewegt werden, sollte man für die Arbeit körperlich gesund sein. „Für Dreien und Vieren auf dem Zeugnis haben wir schon Verständnis“, sagt Siedler. „Die mit den Einsen und Zweien zieht es in der Regel sowieso nicht in die Gießerei.“ Dennoch sind das Rechnen bei der Zusammensetzung der Metalle für die Schmelze und Leseverstehen für gesetzliche Rahmen wie Arbeitsschutz oder Umweltschutzvorgaben notwendig.
Deshalb bietet Siedler immer im Juli einwöchige Praktika an. „Das ist für beide Seiten von Vorteil“, resümiert der Diplomingenieur. „Wir sehen, ob die Leute mitanfassen und sie sehen, ob ihnen die Arbeit liegt.“ Handwerkliches Geschick, Interesse und am besten einen Bezug zum Gießen sollten Bewerber schon mitbringen.

Ausbildung in drei Handwerksberufen

Ausgebildet werden Gießereimechaniker, Mechatroniker und Modellbauer. Der Gießereimechaniker vereint die früheren Berufe des Formers, des Kernmachers und des Schmelzers. Während der Ausbildung müssen alle drei Bereiche durchlaufen werden. Der spätere Einsatz im Beruf richtet sich aber nach Können und Neigung.
Die Mechatroniker, eine Kombination aus Schlosser und Elektriker, sind in der Instandhaltung beschäftigt und halten sämtliche Maschinen des Betriebs am Laufen. Modellbauer arbeiten dagegen meist mit Holz, denn sie fertigen das für die Formherstellung notwendige Modell. Mit Hilfe der Modelleinrichtung, bestehend aus Modell und Kernkasten, wird eine sogenannte verlorene Form hergestellt, in die dann das flüssige Metall gegossen wird. Die Besonderheit dabei ist, dass das Modell maßlich bis zu 2,5 Prozent größer sein muss als das Gussstück am Ende, denn der flüssige Stahl zieht sich in der Gussform beim Erkalten von 1600 Grad Celsius auf Umgebungstemperatur um bis zu 2,5 Prozent zusammen. Man spricht bei der Erstarrung von Stahl und Eisen von einer Volumenschwindung.

Exzellente Verbindung von Theorie und Praxis

Für alle drei Ausbildungen beginnt die Berufsschule gemeinsam in Leipzig und ab dem zweiten Jahr findet die theoretische Schulung als Blockunterricht im Berufsschulzentrum für Wirtschaft und Technik in Freital statt. Der Vorteil der parallelen Ausbildung in Betrieb und Berufsschule, auch duale Ausbildung genannt, liegt darin, dass die Azubis Theorie und Praxis sehr gut abgleichen können. „Wenn sie in der Berufsschule etwas lernen, das von ihrer Praxis bei uns abweicht, müssen wir sehen, ob es neue Erkenntnisse gibt und wie wir das bei uns nutzen können“, berichtet Siedler.
Der Zukunft der Gießerei sieht Siedler gelassen entgegen: „Welche Alternativen zur Herstellung von Bauteilen haben denn die Kunden? Da ist das Zerspanen, also Drehen und Fräsen, aber selbst moderne 5-Achsmaschinen haben technische und geometrische Grenzen und so ganz langsam kommt das Metall-Drucken, aber wer leistet sich sowas?“

Familienbetrieb mit funktionierendem Nischenkonzept

Herr Joachim Keßler und Herr Richard Siedler gründeten das Unternehmen 1995 und seit dem Ausstieg von Herrn Keßler im Jahr 2005 ist die Firma im Familienbesitz der Siedlers. Heute besetzt die Gießerei eine Nische mit Kleinserien und Einzelanfertigungen mit einem Gewicht von 20 Gramm bis 750 Kilogramm. Dabei bedienen sie eine Palette von ca. 350 Werkstoffen. Das sind außer Nichteisen nahezu alle Eisenwerkstoffe vom unlegierten Gusseisen bis hin zum hochlegierten Edelstahl. Sogar Kanonen gießt man hier wie vor über 200 Jahren für Schützenvereine, die damit jährlich die Völkerschlacht nachstellen oder aber originalgetreue Exemplare für Schlösser und Burgen.

Meister fallen auch hier nicht vom Himmel

Nach der dreieinhalb-jährigen Berufsausbildung muss aber noch nicht Schluss sein, denn es gibt verschiedene Qualifikationsmöglichkeiten. Neben einem späteren Ingenieurstudium sind die praxisnahen Meister- und Technikerausbildungen in zwei bis vier Jahren möglich. „Wenn sich jemand gut entwickelt, fördern wir selbstverständlich eine solche Qualifikation, das heißt finanziell und praktisch“, sagt Siedler.
Wenn in der Halle das Signal ertönt
Im Schmelzbetrieb mit den drei unterschiedlich großen Mittelfrequenzinduktionsöfen von 200 kg bis 600 Kilogramm ertönt ein lautes Hupsignal. „Das ist zum einen das Signal der zwei Schmelzer an den Kollegen aus der Formerei, dass der Abstich beginnt und er unter anderem die Temperatur der Schmelze mit einer langen Lanze misst“, erklärt Siedler. „Zum anderen ist es aber auch ein Zeichen für Besucher, dass es jetzt etwas zu sehen gibt.“ Eindrucksvoll ist es allemal, wenn der flüssige, gelb leuchtende Stahl in die Gussform fließt und sich die Bindemittel in der Form aus Sand entzünden. In der Natur findet man in Bezug auf die Temperaturen etwas Vergleichbares nur in einem Vulkan.

Gießen als Fertigungsverfahren erfordert vor allem bei Stahl einen sehr hohen Energiebedarf. „Ich kann eben dem Schmelzer nicht sagen: ‚Heute schmilzt du den Stahl bei halber Temperatur.‘ Das funktioniert nicht.“ Um deshalb an anderer Stelle Strom einzusparen, investierte Siedler 30.000 Euro in die LED-Beleuchtung in den Fertigungshallen und diese Investition amortisierte sich bereits nach zwei Jahren.

Siedler plant pro Jahr zwei Ausbildungsstellen, aber nicht immer findet er geeignete Bewerber für den Gießereiberuf. „Von Anfang an sind die jungen Leute in die Produktion mit eingebunden, denn so lernen sie leichter“, sagt Siedler. „Ich lasse hier niemanden im ersten Lehrjahr nur die Halle kehren.“
Am 23. August lädt die Gießerei zum offenen Werktor von 8 bis 15 Uhr in die Gerhard-Ellrodt-Straße 24. Dabei bittet das Unternehmen darum, keine Personen oder Bauteile zu fotografieren und unbedingt festes Schuhwerk (keine Sandalen) zu tragen.